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Rückblick auf den Jubiläumsslam: 7 Jahre Poetry Slam Erlangen

Die Bilder des Abends: Fotos (klick)
Mitschnitt der Live-Sets von Bqubik: Freestyle-Sensation (klick)

Das Jubiläum am 18. Januar 2009 wird in die Geschichte des Erlanger Slams eingehen – als eine der besten Shows, wenn nicht sogar die beste von allen bisher. Definitiv aber wars die größte und aufwendigste seit unserem Bestehen.

Gesamtdauer der Show:
5 ½ Stunden

Zuschauer im Saal:
ca. 520 (inkl. Poeten)

Publikum:
jung und alt bunt gemischt

Ablauf:
drei Blöcke, zwei Pausen

Ergebnis:
Dreifachsieg – Pauline Füg, Andreas Grimm, Bybercap

Aftershow-Party:
war nicht geplant, hat aber sowas von stattgefunden

Fotos:
hatten wir glatt vergessen, aber Bremmo ist mit seinem Handy eingesprungen, wobei ganz gute Bilder rauskamen, siehe hier

Der Show war diesmal 50/50 aufgeteilt in Slam und Rahmenprogramm, zur Feier des Tages. Im Wettbewerb befanden sich 6 Teilnehmer. Wir hatten uns kurzfristig entschlossen, statt der vorgesehenen 8 Teilnehmer aus Gründen des Volumens des übrigen Programms maximal 6 Menschen slammen zu lassen. Dies stellte sich später, so gegen Mitternacht, als goldrichtige Entscheidung heraus. Die fünf Namen, die „ungezogen“ in unserem Lostopf zurückblieben, sollen bittschön nicht traurig sein und einfach im Februar oder März mitmachen (jeweils der 15.), da klappt es auf jeden Fall.

Im Laufe der Jubiläumsshow wurde auch die Gewinnerin unseres Kurzgeschichtenwettbewerbs bekannt gegeben: Katharina Spengler, mit ihrem Text „Zwischen zwei Zügen“. Beim nächsten Erlanger Slam findet die offizielle Preisvergabe statt.

Selbstverständlich begann der Abend mit 20 min Verspätung, was aber nicht zuletzt an der schieren Menge der Zuschauer lag, die erstmal rein kommen und hernach alle ein Plätzchen im Saal finden mussten.

Spezialgast Jaromir Konecny eröffnete mit einem tschechischen Witz, um das Publikum gleich mal mit dem Humor seines Heimatlandes bekannt zu machen. Eine seiner kultigen Hamstergeschichten folgte und genügte bereits, um das Eis zu brechen und die Stimmung im Saal aufzudrehen. Auch bei seinen noch folgenden Auftritten in den anderen Runden forderten die Zuschauer jedes Mal einen Witz ein, bevor sich Kurzgeschichten anschlossen, die übrigens vom Sexfaktor her immer weiter zulegten.

Das musikalische Element in Runde 1 gestaltete Nikita Gorbunov. Er lief zunächst mit defektem Tonabnehmer auf, was für ein beständiges Störsummen während des Gitarrenspiels sorgte und weigerte sich mit der den wahren Künstlern eigenen Hartnäckigkeit, die angebotene Ersatzgitarre zu verwenden. Trotz Störgeräusch schaffte er es jedoch, die Zuschauer in kürzester Zeit für sich einzunehmen, mit entwaffnend eleganten, lakonischen Songtexten und eingängigen Melodien: die Angebetete brach ihm schullandheimi-esk das Herz und kotzte sich hernach schön, die unbeschreibliche dumme Zecke Wolf Biermann deklamierte stoisch „glaub nicht an all das Heugeschreck, mein Schnauzer wird euch schützen!“, schließlich lüftete er im dritten Lied Erlangens dunkles Geheimnis – auch den Zuschauern fiel es dabei wie Schuppen von den Augen… zum Abschluss legte er die Gitarre beiseite und verblüffte mit einer dramatischen zehnminütigen Superstarsatire, getragen von Halbplayback-Synthiepop, bei der abschließend Detlef D. Soost die Endlösung des Humanismus verkündete. Crank! Und beeindruckend.

Debütant Veit Simoneit kam direkt vom Lostopf auf die Bühne und berichtete in einer Mischung aus Fabel und Biologieunterricht von den sogenannten Diemels, den heimlichen Verwaltern unseres Stoffwechsels, und entwarf kühne anatomische Alternativen zu den menschlichen Körperfunktionen. Leider kappte das Zeitlimit den Ausgang der Geschichte.

Bybercap „Hands up 7 up“ trug seinen Text so souverän und dynamisch vor, dass das Publikum förmlich hineingesogen wurde in den Gedankenkosmos eines Englischlehrers während einer typischen Unterrichtsstunde – ein sarkastischer Kurztrip in den Wahnsinn des deutschen Schulalltags. Er sollte die Runde für sich entscheiden.

Tobias Hoffmann ließ sein lyrisches Ich den etablierten Literaturbetrieb erobern und auf einer Ebene mit den Größen der Elfenbeinturm-Elite in der Kulturhalle zu Schwäbisch Gmünd die selbstgemachten Schwarten signieren – ein Bilderbogen aus dem Leben eines Arschlochs unter Gleichen, eine Abrechnung mit Scharführer Grass und Kollegen inklusive Dunstkreis.

Nach der ersten Pause wurde es wieder tschechisch, Jaromir ließ es krachen. Dem folgte Jan Koch, der in Runde 2 für die Musik zuständig war. Der Berliner Liedermacher schlug eher melancholischere Töne an, setzte sich jedoch charmant und augenzwinkernd in Szene. Die Atmosphäre im Raum trug bald die Handschrift seiner beeindruckenden Bühnenpräsenz. Und selbstverständlich schlug der reichlich zehnminütige Berlin-Song ein wie eine Bombe. Haltet die Augen nach Gelegenheiten auf, Jan Koch live zu sehen!

Den Wettbewerb in Runde 2 eröffnete Exil-Lübecker Matthias Kröner, angenehm konsequent trug er ausschließlich seine eigenen Lieblingstexte vor, größtenteils in ruhigen, lyrischen Tönen: das salzige Herz im Seesack über der Schulter, das Befinden in den Momenten der Vertrautheit, die eigene Durchschnittlichkeit als beiläufiges Eingeständnis, in dem ein irritierender Stolz anschwillt. Am Ende schnitt ihm die Hupe das Wort ab, welches ihm das Publikum aber postwendend zurück erteilte. Den fast vollendeten abgebrochenen Text begann er daraufhin in gelassener Konsequenz noch mal von vorn!

Andreas Commandante Grimm hatte alle bei dieser Show vorgetragenen Texte am Vorabend in der Kneipe geschrieben (entsprechend las er auch direkt aus seinem Notizbuch vor), darunter auch ein Geburtstagstext für den Erlanger Slam. Aber was für einen! So wurde ein Jubiläum noch nie gewürdigt und es müssen ja nicht immer Blumen sein, denn Herr Grimm verfügt in Sachen literarischer Zuordnung über seine eigene Kategorie und hat keine Anbiederung nötig. Auf jeden Fall eine Ehre für uns, wir werden Seit an Seit weiterverwesen durch die Jahre bis hin zur Losigkeit von Leben!

Pauline Füg beglückte uns zur Feier des Tages mit einem ihrer größten Texte, dem „Zauberspruch für Verwundete“: romantisch-poetisches Reisetagebuch einer einsamen Zweisamkeit im Rückspiegel eines Autos auf dem Weg Richtung Erinnerung. Immer wieder berührt einen dieser Text, dem Publikum erging es nicht anders. So kam es zum Finaleinzug, in Freude vereint mit dem dritten Finalisten Andreas Grimm.

Nach der zweiten Pause spulte Jaromir seine Hardcoresex-Komödie ab, zuvor hätte das Publikum in einer kurzen Abstimmung auch eine thematisch konträre Alternative (Zen-Meditation) wählen können, tat es aber nicht. Komisch. Im Anschluss schockierte, diese Formulierung trifft es am besten, unser Beatboxwunderkind Pheel die Zuschauer mit einem Solo vom Allerfeinsten und seinen unglaublichen Fähigkeiten der „Geräuschgewinnung“. Sowas hat man halt noch nicht gesehen, wenn man es noch nicht gesehen hat. Drum’n’Base-Beatboxing inklusive Synchrongesang und variierenden Filtereffekten, Kehlkopf-Samples und inszeniertes Scratching… muss man erlebt haben.

Das Dreierfinale nahm das Publikum mit Begeisterung auf, Pauline Fügs legendärer „Justus Jonas“ traf auf Herrn Grimms unberechenbare Gedankenbandwürmer. Pauline erntete gleich enthusiastischen Zwischenapplaus nach den ersten Zeilen ihrer kultigen Liebeserklärung an den immerjungen Hobbydetektiv. Der Commandante schien nach längerem Aufenthalt im Backstageraum zunächst etwas „angeschlagen“ und musste einen Text abbrechen, weil er versehentlich die Seite im Notizbuch verblätterte und nicht wieder fand. Der Ersatztext war dann eine Warnung an die Adresse zwischenmenschlicher Abenteurer und an Geist, Form und Tiefe wie immer über jeden Zweifel erhaben. Bybercap „Hands up 7 up“ (so sein Pseudomy-Zusatz an diesem Abend) knöpfte sich in seinem durchaus bewegenden Finaltext das deutsche Bildungssystem in all seiner Ungerechtigkeit und Doppelmoral vor, eingerahmt von Zitaten des großen Leonard Cohen. Im Refrain stellte er die Rechtfertigungen der Politik in Frage, es war immer wieder dieselbe Frage, und die lautete: fuck you!

Als wir zur Abstimmung schritten, war es Mitternacht, Begeisterungsstürme brandeten über die Finalisten herein, die sich bereits in trauter Umarmung gegenseitig gratulierten. Dies griffen die Zuschauer natürlich auf und forderten lautstark einen Dreifachsieg ein, deutlich euphorisiert von diesem Hammerfinale, aber in geballter Einigkeit. Weil das Votum des Publikums beim Slam Gesetz ist, heißen die Sieger des Jubiläumsslams Pauline Füg, Andreas Grimm und Bybercap „Hands up 7 up“. Hugh!

Kurz nach Mitternacht war also die Show vorbei, zumindest für die, die gehen mussten (um beispielsweise den letzten Zug Richtung Nürnberg zu kriegen). Von unseren Special Guests „Bqubik“ war nämlich bislang nur der wie vom Teufel besessen beatboxende Pheel aufgetreten. Nun stieß also sein Bühnenpartner dazu, die rappende Slam-Legende Tobias Borke, um für alle, die noch ein wenig mit uns feiern wollten und/oder einfach noch nicht genug hatten, eine zünftige Aftershow abzuziehen. Geschätzte 300 von den deutlich über 500 Zuschauern entschieden sich zunächst zu bleiben und saßen neugierig auf ihren Stühlen, manche fanden wohl zum ersten Mal an diesem Abend einen Sitzplatz. Als Bqubik dann loslegten, passierte nach wenigen Minuten etwas sehr erstaunliches, zumindest hab ich so was in dieser Form noch nie gesehen…

Pheel produzierte die Beats (oral) und legte ab und zu eine Baseline vom Microkorg drunter, Borke startete seinen improvisierten Sprechgesang. In kürzester Zeit kamen die beiden schon lange lange lange nicht mehr nüchternen Ausnahmetalente in Fahrt und schalteten das Tempo hoch auf Drum’n’Base Geschwindigkeit. Tobi Borke forderte das Publikum nun auf zu tanzen. Dummerweise gab es keine Tanzfläche. Und dann passierte es: die Zuschauer erschufen sich einfach eine, indem sie die Stuhlreihen nach vorn und hinten wegschoben. Bemerkenswert war dabei, dass eigentlich alle Stühle horizontal miteinander verschraubt waren und sich dadurch im Grunde gar nicht wegschieben ließen. Dem Druck der Menge konnten sie aber nicht standhalten und so bogen sich die Reihen wie ein großes, sich langsam öffnendes Auge auseinander – sah von der Bühne herab ziemlich abgefahren aus. Und dann gabs kein Halten mehr, Publikum und Künstler tanzten zusammen bis kurz vor 2 Uhr nachts, zwischenzeitlich freestylte auch noch jemand aus dem Publikum mit. Zum ersten Mal überhaupt musste ich schließlich das Mikro an mich nehmen und die noch anwesenden Zuschauer bzw. Hotstepper bitten, nach Hause zu gehen, da die Techniker, Ordner und das Barpersonal des E-Werks ihren Feierabend sowieso schon lange überstundet hatten, außerdem Pheel und Borke vor Anstrengung kaum noch stehen konnten. Wer sich ein akustisches Bild von dieser sensationellen Aftershow-Performance machen möchte, folgt bitte diesem Link zur extra dafür eingerichteten Myspace-Seite.
(Klickt einfach den Track „Bqubik live in Aktion“ an und nickt mit dem Kopf. Achtung: Soundqualität hinkt der Wirklichkeit hinterher, na klar, ist aber trotzdem ok, auch wenn kein Saalmikrofon am Start war und man deshalb das Publikum kaum hören kann)

Einen Schnipsel Video-Eindruck (Handyaufnahme, also miserableste Soundquali und 2 Meter Sichtweite, weil Saallicht aus) gibt’s hier.

Nachwort

Der Abend war superlang und trotzdem kurzweilig. Beeindruckendes auf der Bühne, feiernde und gefeierte Künstler, bestens gelauntes Publikum, das garnicht genug zu kriegen schien, ausgelassenes Treiben im Backstagebereich und am Ende eine spontane Massenparty auf einer Tanzfläche, die vorher noch nicht da war. Bqubik setzten dem Ganzen wahrlich die Krone auf.

Obwohl über 100 Zuschauer keinen Sitzplatz bekamen, hat keiner geschimpft. Auch unsere Programmhefte reichten bloß für 300 Leute, aber Bremmo hat sie ja „gerecht verteilt“: er warf sie einfach so hoch er konnte in die Luft, hernach segelten die Faltblätter in die Menge herab. Von unserer auf eine Mini-Auflage von 99 Stück limitierten CD haben wir bereits die Hälfte verkauft. Gefreut hat mich besonders, dass Jan Kochs CDs uns förmlich aus den Händen gerissen wurden. Dieser Mann lebt für die Musik und hat jede Unterstützung verdient. Seine drei Alben sind allesamt saugut, icke hab sie ja selber daheim. Herr Gorbunov hätte auch viele CDs verkauft, aber er hat ja noch keine gemacht – selbst schuld, Nikita! Schön war auch, die Zuschauer während der Auftritte endlich einmal vollkommen im Dunkeln lassen zu können und nur die Bühne beleuchtet zu sehen, das tat der Atmosphäre richtig gut. Die mit jahrelanger bzw. jahrzehntelanger Auftrittserfahrung beschlagenen Bühnenveteranen Jaromir Konecny, Andreas Grimm und Matthias Kröner teilten mir nach Showende übrigens jeder für sich und unabhängig voneinander mit, dass diese Show jeweils zu den Top 3 ihrer gesamten Karriere zählen würde, wenn es nicht sogar die beste war – ein bedeutendes Kompliment, vielen Dank!

gedankt sei auch…

…den fleißigen Helfern Ela, Bremmo, Steffi, Manuel und Emlie und den unbekannten Flyerverteilerinnen – sie sollen hoch gelobt sein! Mühe haben wir alle uns nicht zu wenig gemacht bei der Vorbereitung dieser Mammutshow, die sogar den Frankenslam 08 noch in den Schatten gestellt hat. Aber es hat sich gelohnt…

…allen beteiligten Bühnenpoeten und Musikern, ich hatte wirklich das Gefühl, dass alle sich richtig Mühe gegeben haben und auch große Freude an den Auftritten ihrer Kollegen hatten…

…insbesondere dem Jaromir Konecny, denn er ist ein Ehrenmann! Zwar ereilte ihn kurzfristig ein Auftrittsangebot von Seiten des BR mit vierstelliger Gage, da wir uns seit vielen Jahren kennen und mögen, erschien er trotzdem wie verabredet in Erlangen…

…dem Hausverantwortlichen des E-Werks, Jörg Engel, mit dem wir inzwischen schon richtig befreundet sind, und der im Vorfeld versucht hat, allen unseren (Änderungs-)Wünschen auch auf die letzte Minute hin noch gerecht zu werden…

…dem gesamten E-Werk Personal, das uns an diesem Abend zur Seite stand. Danke an Klaus und Kollegin für die sehr schöne Lichtstimmung und das Audiomanagement, Danke an das arg strapazierte Einlasspersonal und die Männer hinter der Bar…

…dem Kulturamt der Stadt Erlangen…